Dienstag, 4. Februar 2014, Wien
Seit vier Monaten bin ich jetzt in Wien. Das erste Semester meines Masters ist rum und ich freue mich auf vier Wochen Semesterferien, gute Tage des leichten Lebens, an denen man sich ein Buch mit ins Bett nimmt, wenn es regnet, oder ein lustiges Mädel, wenn die Sonne scheint. Vom Nachtleben wollte ich mal wieder trinken, Blätter in Tinte tauchen, kurzum mich meiner längsten und treuesten Freundin, der Muße einmal wieder ausgiebig widmen und all den tollen Kleinigkeiten, die dieses raffinierte Weib einem zu bieten weiß, wenn man sie nur auf die richtige Weise zu nehmen versteht.
Mit einer schnellen Bewegung werfe ich mir den blauen Mantel mit dem Fellkragen über, kontrolliere kurz, ob ich Schlüssel, I-Phone und Kreditkartenetui mitgenommen habe und bin auch schon zur Tür hinaus, im Aufzug, der mich drei Stockwerke tiefer ins Erdgeschoss fährt. Nachdem ich kurz in den Briefkasten geschaut habe – ich stecke mir vier, fünf Briefe inkl. einer Postkarte mit einem schwarz-weißen Burggraben nachlässig in die Reisetasche – verlasse ich das Haus und nehme die U-Bahn vom Schottenring zum Wiener Westbahnhof. Ich steige die Rolltreppen hoch in die Bahnhofshalle, die abgrundtief hässlich ist, 50er Jahre Verbrechen wie der Hauptbahnhof in München, denke ich. Ich steige sie hoch, weil ich es immer extrem unangenehm finde hinter jemand zu stehen und kleiner zu sein. Und das ist ja beim Fahren auf Rolltreppen, der nutzlosesten Erfindung seit es Aufzüge gibt, zwangsläufig fast immer der Fall. Ich drängele mich also mit meiner vollgepackten Tasche als Warnschild vor der Brust an all den 0815-Jacken und -Gesichtern vorbei, denen der Stress wie auf die konventionsgedrückten Stirnen gepappt scheint und suche den nächsten Schalter. Mein Zug nach Budapest geht in knapp zwanzig Minuten und ich muss mich beeilen. Nach einem sinnlosen Schlenker an einem Imbiss vorbei, der fettige aber nicht übel riechende Grillwürstchen mit Senf, Ketchup und Semmeln ohne Mohn anbietet, finde ich das Reisezentrum der ÖBB. Die grellrote Farbe sticht mir unangenehm in die Augen. Natürlich schlängelt sich eine lange Schlange durch den Raum, eingepfercht zwischen zwei schwarzen, parallel laufenden Bändern, wie man sie sonst nur vorm Check-In am Flughafen sieht. Ich hasse es zu warten, sehe aber gerade keine Möglichkeit mich vorzudrängeln, was meine gute Reiselaune gleich um einige Nuancen nach unten dämpft. Die Brünette vor mir mit dem kleinen schwarzen Marc Jakobs Täschchen, der Modelfigur und dem strengen Vorstandsassistentinnen-Dutt, wirft mir über die Schulter einen kurzen Blick zu, nicht unkokett wie mir scheint, schlägt ihre Smokey-Eyes nieder, lächelt halb versteckt, als sie merkt, dass ich ihren Blick sehr wohl mitbekommen habe. Das motiviert mich wieder. Und so lang scheint die Schlange ja doch nicht zu sein. 10 Minuten vielleicht noch, dann bin ich dran. Wie verkrampft die meisten Leute immer sind, wenn sie auf irgendetwas warten müssen. Mir geht das manchmal auch so, aber nur für ein paar Minuten, dann nimmt bei mir meistens die Neugierde überhand. Erstaunlich doch, was für Gestalten man in diesen vermeintlich auf Effektivität getrimmten Abfertigungshalden begegnet. Die Gewöhnlichkeit ist salonfähig geworden. Ortega hatte recht, als er schon 1930 in Der Aufstand der Massen klar erkannte, welche gesellschaftliche Umwälzung das 20. Jahrhundert vor allem bestimmen sollte: „Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick“ schrieb er, „ist es jedoch, dass die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall einzusetzen.“ Das ist heute noch mehr der Fall als damals, denke ich mir, während ich einen kleinen Jungen dabei beobachte, wie er seine genervte und sichtlich mit der Gesamtsituation überforderte Mutter ständig am Ärmel ihres beigen Parkers zupft. Oh man.
Um mir das Warten zu verkürzen, greife ich in die rechte Außentasche meiner Winterjacke. Die weißen I-phone Kopfhörer sind natürlich wieder nicht da. Nachdem ich in drei verschiedenen Taschen alles mögliche herausgewühlt habe, darunter meine schwarzen Lederhandschuhe, eine halb fertig gerauchte Packung Cohiba-Zigarillos, einen völlig zerknautschten Fünf-Euro-Schein und noch allerlei unnütze Dinge – alte Partyflyer, eine Serviette vom Cafe Jelinek mit einer Nummer von einem Mädel, das ich niemals angerufen habe, aus reiner Unlust wahrscheinlich, nicht weil sie mir nicht doch ein wenig gefallen hat – nach all dem Gewühls, das mich tierisch aufregt, finde ich also diese verdammten weißen Kopfhörer endlich völlig verdreht in der linken oberen Innentasche. Das Entwirren von Kopfhörern hat immer was von Zen-Buddhismus. Das Hören ist hier das augenscheinliche Ziel, doch wer meint, er könne diese kleinen Biester heute einmal schneller als sonst aus ihrer unfreiwilligen Verflechtung befreien, der irrt gewaltig. Ohne Muße und einem leicht ausgeprägten Hang zur Selbstkasteiung gelingt die Entwirrung nie. Die Tatsache, dass ich mir beim Auseinanderdröseln dieser Dinger, die jedem Deppen im öffentlichen Raum mittlerweile unentbehrlich geworden sind, solch einen pseudointellektuellen Schwachsinn ausdenke, zeigt klar, dass ich einfach schon zuviel Zeit mit dem Entwirren von letztlich unnötigen und ungemein nervtötenden Verkabelungen verbracht habe.
Nachdem die Meditation zu Ende ist, starte ich eine meiner Tango-Playlists und höre „Sin Palabras“ von Anibal Troilo und seinem Tango-Orchester. Eine herrlich verknisterte Aufnahme aus den späten Dreißigern. Während ich dem Lauf der alten Bandoneons lausche, die so garnicht zum primitivistischen Ambiente des Reisezentrums passen und mich deswegen ungemein erheitern, sodass ich fast lachen muss, hat sich bereits einiges vor mir gelichtet und ich bin dran. Ich hole mir die Fahrkarte, die dank VorteilsCard erstaunlich billig ist, verlasse die Wartehalle mit einem motivierenden Lächeln nach links und rechts, an alle anderen Arschgeigen, die noch den Zettel mit der dreistelligen Nummer in der Hand haben, kaufe mir noch ein Sandwich bei dem Stand mit den fettigen Würstchen und stehe auch schon, nachdem ich noch einen kurzen Kontrollblick auf die große blaue Tafel mit den Abfahrten werfe, vor meinem Gleis, in das gerade ein roter RailJet, Destination BUDAPEST, einfährt.
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